Romanauszüge aus "Reichsparteitag"

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Fackelzug

Samstag, 3. September, Nachmittag

Scheuerlein lenkte seine Schritte Richtung Josephsplatz, bog dann rechts in die Karolinenstraße ein. Er schlenderte langsam, ein Trupp HJ überholte ihn. Der Schlager, den die sangen, ging ihm auch nicht mehr aus dem Kopf, ein Ohrwurm eben. Dieses Lied, so erinnerte er sich, war das Titellied zum Film Hitlerjunge Quex. Er hatte ihn auch gesehen, sogar in dem Kino, vor dem er jetzt stand. Vereinzelt sammelten sich schon Kinder zur Nachmittagsvorstellung, die hatten wohl Kinogeld von ihren Eltern bekommen. Es roch nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte aus dem Stand nebenan. Also vorwärts, vorwärts zur Zuckerwatte! Er beobachtete die Gesichter der HJler, die den Kopf schon zum Stand mit den Schleckereien verdrehten. Ihr Truppführer ließ sich allerdings nicht irritieren, kann er ja auch nicht, mit einem Lied von Baldur von Schirach, dem Reichsjugendführer, auf den Lippen. Wenn einer schon Baldur heißt. Wie sang sich das Lied wohl mit Zuckerwatte, schoß es Scheuerlein durch den Kopf. Dann wäre außer dem Hirn auch noch der Mund verklebt. Er lachte, die HJ fühlte sich geschmeichelt.

Die Lorenzkirche in Sicht hoffte er, daß noch ein Stand mit Bratwürsten ihm sein Mittagessen bieten konnte. Er hatte Glück, kaufte sich zwei Semmeln und kaute. Samstag kann ein guter Tag sein. Aber nicht frei von Sorgen und Arbeit. Eigentlich müßte er heim in die Sielstraße, mit der Hausordnung war er auch wieder dran, doch er verfolgte ein anderes Ziel. Mit der Straßenbahn in die Harsdörfferstraße. Da war es jetzt ruhig, so hoffte er, man konnte vielleicht reden, nicht in polizeilicher Umgebung; möglicherweise lockerte das die Zunge der dortigen Beteiligten. Da draußen lag der Schlüssel, Scheuerlein.

Ein Wagen der Linie 2 quietschte um die Ecke, die neuen Wagen waren zu lang für den engen Gleisbogen an der Lorenzkirche, ausreichend Platz boten diese. Kaum PGs darin, die mußten sicher noch Girlanden winden oder brauchten Ruhe vor dem anstrengenden Abend im Kreise der lieben - Kameraden. Die Welt kann so einfach eingerichtet sein, wenn man alle Probleme ausblendet oder sie immer den anderen macht; denk an die Austraße, Scheuerlein! Er durfte nicht vergessen, den Werth anzurufen, die Dicke brauchte einen Denkzettel. Man muß auch auf die Gesundheit der Volksgenossen achten - und wenn man nur ihre Frauen rein hält. Das Gesundheitsamt freut sich immer über Kundschaft.

Er konnte die Fassaden entlang träumen, bewunderte immer wieder die stolzen Gesichter der Bürger- und Geschäftshäuser aus dem letzten Jahrhundert, die ganze Königs - Straße entlang. Die Fassaden waren der Gewinn einer Zeit und Klasse, die es ihm, Scheuerlein, als kleiner Leute Kind versagte auf eine höhere Schule zu gehen. Und diese Schicht bestimmte immer noch die Richtung, gab Geld für die Reichsparteitage und die Bewegung. Zeigte sich großzügig in der Unterstützung des Winterhilfswerks. Ein Sack Kohle pro Familie. Und die mit den schönen Fassaden hatten Zentralheizung ...

Beim Einfädeln in den Straßenbahnverteiler am Hauptbahnhof mußte der Wagen warten. Scheuerlein konnte in Ruhe die Bürgersteige beobachten; an der Ecke Königstor und Frauentorzwinger stand ein Stürmerkasten. Unwillkürlich blickte er hinein. Das Titelbild war mit Reißzwecken darin befestigt. Eine schlimme Fratze starrte Scheuerlein an: "Die Maske" - darunter gezeichnet ein Zerrbild von einem Menschen, der imstande war, jemanden aufzuhängen. Sogar gereimt war der Untertitel: Des Juden Lächeln ist nur Teufels Trick - indem er grinst, dreht er Dir schon den Strick. Diese Kästen gab es überall, besonders seit 1935, er kannte sie. Aber so einen Juden hatte er noch nie gesehen. Darum wahrscheinlich auch eine Zeichnung, real konnte es so einen Menschen nicht geben. Daß darauf jemand hereinfiel erschien ihm unwahrscheinlich. Doch gleich dachte er wieder an die Begeisterung beim Abbruch der Synagoge und er mußte zugeben, daß der Stürmer und sein Chef doch eine Wirkung auf die Menschen hatten. Keine zweihundert Meter weiter wurde das Blatt ja auch gemacht, in bester Geschäftslage in der Pfannenschmiedsgasse. Jeder konnte es abonnieren und sich einen privaten Stürmerkasten bauen. Das sah man auf dem Land so, kein Dorf ohne. Scheuerleins Linie 2 ruckte wieder an, dafür war er ganz dankbar, staute sich doch im Wagen die frühnachmittägliche Hitze, wenn er nicht fuhr. Der Zug schwenkte durch die Allersberger Unterführung nach Süden ein, sein Ziel.

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