Romanauszüge aus "Luftlage"

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Fackelzug

Die Schwingungen griffen langsam an sein Ohr, verstärkten sich, drangen in das Bewußtsein ein. Ein vielstimmiger Chor aus Dröhnen und Heulen mit 150 und 420 Herz in oberen Stimmlagen erhob sich, fegte über die Stadt, stand wie ein Kegel über allem, auf - und abschwellend. Das Leben stand still mit einem Augenblick, rannte, verkroch sich. Alarm: Brausen - anschwellend, näher bedrohend, dieses schon allein, grollen dumpf die größeren Sirenen in der Ferne den Ton untermalend.

Zehn Minuten hatte man, die richtigen Dinge und doch die falschen zu nehmen oder zu tun. Noch schnell auf die Toilette, im Keller auf den Eimer ... ? Türen zu schließen erübrigt sich, der Hauswart brüllt schon, wo ist die Aktentasche, meine Brille, Wäsche zum Wechseln, der Mantel, ach, laufen schneller Wohnungstüre die Ohren es hört nicht auf das Heulen schneller rauf und runter und rauf sei dankbar daß du nicht auch noch an die Fürther - Straße mußt von oben kommen die anderen stehen im Weg blockieren Dich die Oma treppab Schreie Beeilung die Wand faßt du die jemals wieder an der hat einen schwarzen Mantel eine Armbinde ja die haben das bewirkt du hast nicht in deine Wohnung geschaut zum letzten Mal noch eine Treppe um die Ecke das Schild die kommen nicht voran das haben wir doch geübt brüllt der Hauswart der Ton läßt nicht nach hier unten ist es nicht ruhiger was jetzt -

Die Stahltüre knallte mit ihrem kalten Ton direkt in die geröteten Gesichter, keiner zuckte, versprach man sich doch Schutz durch sie. Ein Radio tickte, das Metronom in ihm spuckte seine Zeit aus, dehnte sie. Atem wurde angehalten, Lauschen wollte man unwillkürlich nach dem tiefen Ton der vielen am Himmel über tausend Jahren, der Ende bringen konnte. So oder so. Onkel Baldrian meldete sich. "Achtung, Achtung! Die Luftlagemeldung. Eingeflogene Feindverbände haben in Quadrat R den inneren Warnbereich erreicht. Bewahren Sie Ruhe. Wir kommen wieder." Der saß jetzt im Palmenhofbunker, sicherer als hier. Das Metronom tickt weiter, jeder Hub einen Kilometer für die Bomber, denkt Scheuerlein, lehnt sich an die Wand. Man kann sich nicht in die Augen sehen, stellt er fest, die anderen weichen aus. Ist es die Angst im Auge des anderen, die man selbst nicht sehen will, um sich die eigene nicht eingestehen zu müssen? Was soll schon passieren, dann eben das Ende. Oder verschüttet sein, das ist das, wenn einen da noch jemand ausgräbt - bei Brand im Haus, das kriecht dann nach unten ... wir leben nicht in der Altstadt, da ist Platz zwischen den Häusern. Und die Reutersbrunnen - Straße ist nicht weit. Und wenn's die trifft? Wer kommt dann? (Jetzt bleib' mal ruhig. Was sollen denn da die anderen denken? So eilig, wie Du vorhin in den Keller wolltest! Ruhe ist das Gebot der Stunde und die erste Bürgerpflicht! Alter Fritz! Und nimm' Dir ein Beispiel an dem Mädchen da drüben, rotblond. Siebzehn. Die sagt gar nichts und atmet auch nicht schnell, da! Hübsch ist die, die ist aus dem dritten Stock, wie sie heißt, weißt Du natürlich nicht. Aber sie geht nicht oft zum BDM, das hast Du gehört, da hat sich schon mancher im Treppenhaus drüber ausgelassen. Hat aber sonst keine Verpflichtung, geht in die Schule. Schau! Jetzt dreht sie sich zu ihrem Bruder, der ist auch die Ruhe selbst. Dabei haben die mehr zu verlieren als Du. Du mit Deinen neunundvierzig Jahren, das bißchen, was Dir noch bleibt, da ist's so schade dann auch nicht drum - oder? War ein Scherz. Aber reiß' Dich zusammen! Ich versuch's. Im Dienst ist das leichter. Da ist es nicht so eng.) Das Licht ist noch an, gut. Strom haben wir und die Gasleitungen sind auf der anderen Seite des Hauses und wenn wir sicher abgedichtet haben an der Türe, dann kommt's auch nicht. Hoffentlich.

Die Ruhe im Schutzraum blieb, auch die sonst Geschwätzigen hielten die Luft an und inne. Das rotblonde Mädchen umarmte seinen Bruder, der wich sichtlich leicht zurück. War ihm wohl peinlich, er wollte sicher schon ein Mann sein. Was aber, wenn sich Männer auch fürchten, dachte Scheuerlein.

Erste Angehörige der Luftschutzgemeinschaft setzten sich, wie es schien, auf ihre angestammten Plätze. Sie taten das leise, keiner wollte auch nur einen Schlag des Metronoms verpassen, das die Zeit quälend langsam teilte, zerhackte. Scheuerlein gewann an die Wand gelehnt mehr Platz, dafür verschlechterte sich die Luft fast sichtbar. Das war ein Problem in ihrem Keller, das sie nicht hatten lösen können, die Frischluftzufuhr. Wer hatte schon soviel Geld, eine elektrische Luftpumpe mit Filter kaufen zu können? Nein, ihr Keller war fast hermetisch dicht. Dafür hatte jeder eine Gasmaske, fast. Alarme durften nicht zu lange dauern. Ihm fiel die Volta - Straße ein, und wie dort die Menschen mit der Maske ... Wie ist das, so langsam zu bemerken, daß der Sauerstoff weniger wird? Schläft man nur ein oder bleibt da ein Rest von Bewußtsein? Er begann zu schwitzen, fühlte es, das Hemd am Rücken begann zu kleben. Das Gemurmel der Hausgenossen, die sich schon hingesetzt hatten, verschwamm in seinem Ohr, bildete einen schwammartigen Teppich aus. Er hatte keine Maske. Das machte nichts.


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