Romanauszüge aus "Luftlage"

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Fackelzug

Irgendein Spaßvogel hatte den Splitter einer Bombe an den übermannshohen Christbaum gehängt, nicht groß, aber leicht rostig und schwer. Er drückte einen Ast nach unten, gab damit Sicht auf den schütteren Stamm der Tanne frei. Aufgefallen war der Splitter scheinbar noch nicht - oder als Mahnung hängengelassen. Sonst bogen sich die Zweige unter dem üblichen: Goldbraune Kugeln mit Schnee in Hakenkreuzformen, sie glitzerten im Sonnenlicht, das am Ende des Flures eintrat. Der Staub in der Luft war in den letzten Jahren mehr geworden, schlug sich nieder auf alles. So nahm das Glitzern der Kugeln zur oberen Hälfte hin ab, keiner hatte die Zeit, sie abzuwischen. Das galt auch für die netten Holzfigürlein, die vom Winterhilfswerk gegen Spenden abgegeben wurden. Nett dazwischen hingen Flieger, Messerschmitts. Am Himmel sah man sie immer seltener. Die Jungen auf der Straße trugen sie an einem Stück Zwirn an ihrem Mantel. Oder sie spielten Luftkampf damit. Viermotorige Flugzeuge gab es beim WHW nicht.

Scheuerlein hielt vor dem Baum inne. Er stand rechts neben dem Führer aus Bronze, der seine Gloriole verloren hatte, eine Standarte fehlte - dafür stand die Tanne da. Ein Julbaum, wie manche sagten. Obwohl - in den letzten Monaten hatte man sich in Nürnberg wieder mehr auf Weihnachten vorbereitet, die Kirchen waren wieder voller geworden. Julfeiern seltener.

Er blickte ins Nichts, seine Augen suchten Halt in den Ästen, er roch den Baum, sein Harz. Wann er zum letzten Mal im Wald gewesen wäre, fragte er sich. Aus der Stadt herauszufahren mit der Straßenbahn, ging kaum mehr; die Arbeit und die Sirenen hielten ihn fest. Langsam löste er seine Augen, ließ seinen Blick nach unten gleiten, zu seinen Schuhen, deren Sohle dünn geworden war in der letzten Zeit, Ersatz gab es nicht. Er fror an den Füßen, das Gebäude war kaum geheizt, die Zentralheizung hatte ihren Dienst schon vor zwei Jahren aufgegeben. Seitdem heizten sie mit Kanonenofen, deren Rohre durch die Fenster hinausführten. Was hatte sich der Hausmeister angestellt, als er Löcher in die Scheiben schneiden sollte. Die graue Hose glänzte fadenscheinig abgewetzt, als die kalte Wintersonne sie streifte, zu lang war sie außerdem. Hat aber den Vorteil, daß du deine Schuhe selten putzen mußt, Scheuerlein, dachte er sich.

Sein Bureau war immer noch dasselbe, das Schild an dessen Tür auch: Scheuerlein, Kriminalkommissar. Aber er saß da nicht mehr allein darin, gegenüber von seinem Schreibtisch stand ein zweiter. Seitdem die Briten den hinteren Flügel an der Schlotfegergasse im August 43 zerstört hatten, mußte man im Haus näher zusammenrücken, die Schutzpolizei teilte nun ihre Räumlichkeiten mit der Kripo. Er hatte einen Zimmergenossen, Hauptwachtmeister Engert, Bertram. Ein recht verschwiegener Mensch, besser so, reden konnte man im Dienst kaum, Schweigen war leichter. Engert hatte auch ein Schild an der Tür, aus Graupappe. Mit einem Reißzwecken am Rahmen festgesteckt, wie eine Mesuse.

Scheuerlein wendete. Näherte sich über den vernachlässigten Flur seiner Tür. Wer bohnerte den eigentlich noch? Bohnerwachs war wohl alle, Kerzen mehr gefragt. Es roch muffig nach feuchten Wänden und Kalk.

Die morgendliche Stille genoß er, wann sonst hätte er alleine in seinem Dienstzimmer sitzen können? Überhaupt alleine. Zuhause war er das auch nicht mehr, er hatte einen alten Rentner vom Wohnungsamt zugewiesen bekommen, der bei dem letzten Luftangriff auf die Südstadt ausgebombt worden war. Eigentlich ein netter Mann mit seinen siebzig Jahren, Zerbe hieß der. Problematisch an dem nur, daß er immer zur gleichen Zeit auf die Toilette - Abort, wie der Alte sagte - mußte wie er. Suchte der Gesellschaft? Näher zusammenrücken in der Volksgemeinschaft hatte es geheißen - aber gleich so eng?

Schon im Bunker hatte man kaum Platz, nicht einmal hier im Präsidium.

Da drückten bei Alarm die Leute von der Straße dazu. Man hatte das genehmigt. So mischten sich die Uniformierten in der Angst mit den Zivilen. Oder weinenden Kindern.

Aber jetzt ist es ruhig, Scheuerlein, denk' nicht dran. Drück die Klinke herunter und geh rein! Setz dich. Atme durch.

Sein Blick schweifte durch das Fenster nach draußen, Schnee lag keiner, dieser Winter versprach trocken zu werden, bis auf den Nebel, der biß in die Augen, manchmal in Schwaden gelb drückte dieser aus der Südstadt, noch nicht alle schwelenden Kohlenlager oder Keller hatten seit Oktober gelöscht werden können, Wasser war knapp. Merkte man auch beim Händewaschen hier, rostig tröpfelte es manchmal aus der Leitung. Sparte aber Seife, von der gab es auch nicht genug, sandig war sie und roch muffig; nicht wie die Kernseife früher. "Friedensware" war ein Wort, was man häufig in der Straßenbahn sehnsüchtig hörte, die Frauen unter den grauen gewickelten Kopftüchern schauten merkwürdig dabei.


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