Verhandlung - Romanauszüge

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Mit den Füßen spielend stand er nun schon bestimmt eine Viertelstunde an der Haltestelle Brücken - Straße und wartete auf die nächste Bahn. Noch nicht einmal ein Zug in Richtung Westfriedhof war gefahren. Scheuerlein lehnte sich an den Mast des Haltestellenschildes, betrachtete so aus der Distanz die beiden Verkaufsbuden gegenüber. Die linke versuchte sich als Milchladen, schon aus Stein gemauert und auch verputzt. In geschwungener Schrift verriet eine Leuchtreklame, was es unter ihr geben sollte. Sie war ausgeschaltet, er tippte bei der Farbe der Leuchtröhren auf hellblau. Im Gegensatz zu dieser standen bei der kleineren Bude rechts daneben Leute mit Taschen und Netzen an. Wie bei der Backdie - Verkaufsstelle am Nordost - Bahnhof konnte er das Durchschnittsalter der möglichen Kunden auf gut über sechzig schätzen. Vom auf Schiefertafeln versprochenen Obst in diesem Laden schien es ausreichend zu geben, denn sichtlich mühsam tragend verließen laufend Frauen den Laden. Über die Straße fiel es ihm allerdings schwer zu erkennen, was denn den Ansturm auslösen würde, bei der derzeitigen Versorgungslage könnten es auch einfache aber günstige Äpfel sein. Scheuerlein beschloß, davon nichts haben zu wollen, hoffte auf den Versorgungswagen zu Mittag im Hof des Präsidiums.

Ein grauer Lastwagen näherte sich von Westen, es war weniger das Geräusch, das jener verursachte, als die Qualmwolke, die er hinter sich herzog, was Scheuerlein in seinen Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Wie eine schwarze Wand ließ der LKW den Ruß in der Luft stehen, hinter ihm verschwamm das Ende der Straße, das zarte Grün der Bäume wich einem alles verdeckenden Grau.

Er trat von der Bordsteinkante zurück, wollte der Wolke zumindest so weit ausweichen, folgte ihr mit den Augen und nahm das ächzende Quietschen der Bremsen des Fahrzeuges wahr. Mit Mühe bog der LKW in die Brücken - Straße ab, ließ seine Abgase aber auf der Kreuzung stehen, langsam begannen diese sich zu verteilen. Neben Scheuerlein hustete jemand, fluchte laut über die Qualität des Kraftstoffes, früher wäre der besser gewesen. "Nicht einmal das schaffen die!" hörte er noch, als er sich in Bewegung setzte. Auf eine Straßenbahn zu warten, hatte offenkundig keinen Zweck.

Mißmutig setze er sich in Bewegung, etwas zornig mit sich selbst, weil er von der Lindengasse her eine von seinem Ziel weiter entfernt gelegene Haltestelle angesteuert hatte. "Was man nicht im Kopfe hat ..." sagte er sich laut vor die Schuhe, dachte dabei an seine Mutter. (Und nicht nur, Scheuerlein. Der hat Dich erkannt. Und Du gehst da so einfach drüber weg? Kannst Du Dir sicher sein, daß die das nicht gegen Dich verwenden, wenn Du Ihnen zu nahe kommst? Dann bekomme ich eben meine Papiere - was soll sonst schon geschehen? Das ist viel. Das ist alles, was Du hast, was Du bist. Denk' mal an Deine letzten Jahre! Und außerdem: Ich habe das alles so angegeben. Daß ich in der Nacht im Dienst war. Hast Du Zeugen, wie Du da im Dienst warst? Naja, den Sohn der Bambergers aus der Lindenast - Straße. Der wird für mich sprechen. Und wenn Du den nicht mehr findest? Wo willst Du den überhaupt suchen? Mach' Dich nicht lächerlich, Du kommst ja in Deinem Fall hier kaum weiter, und dann willst Du verjagte Juden finden, die dann auch noch für Dich aussagen wollen? Wenn er nicht umgebracht worden ist, wie seine Mutter. Die ist mit dem Transport am 24. März '42 nach Izbica gebracht worden. Das weißt Du aber.)

Scheuerlein trat nach einem Stein, der flog in Richtung der Straßenmitte. Hinter sich hörte er eine Straßenbahn nach Westen in ihren Gleisen quietschen.
Das weißt Du aber! Hör mir zu! Das war der gleiche Transport wie von der Lilli Goldschmidt, und ja auch das gleiche Viertel. Kannst Du Dich erinnern, wie Du sie dann noch gebeten hast, die Olga Bamberger, auf den Lastwagen zu steigen? Sie hatte Tränen in den Augen. Sie sagte "Gerade Sie!" und dann schwieg sie. Du hast dann die Bordwand hochgeklappt und die Plane heruntergelassen. Wie konnte ich denn wissen? Du hast doch sonst alles gelesen - es wäre Dir doch ein leichtes gewesen, die Wahrheit herauszufinden. Geredet wurde ja schließlich auch bei Euch im Amt, erinner' Dich, die Geheimen waren mit Euch unter einem Dach. Und was stand denn auf den Siegelmarken? Und außerdem: Das müssen wir nicht noch einmal besprechen. Olga Bamberger zum Arbeitseinsatz - Du Kriminalist? Und der Schäffer ist die ganze Zeit ruhig geblieben. Den hast Du überhaupt nicht gestört. Und jetzt geh' zu, bis die Bahn da ist, stehst Du noch eine halbe Stunde herum. Mach' schon.")

Ein Rad der Bahn war unrund, er konnte das deutlich an dem schlagenden Geräusch wahrnehmen, unter dem der Triebwagen mit seinem Anhänger vorbeifuhr. Mißmutig setzte er seinen Weg fort, die Johannis - Straße entlang, an deren Ende er verschwommen durch den Dunst grau und braun die Neutor - Mauer erahnen konnte. Einen Blick über die Mauer zu den da Liegenden konnte er sich nicht verkneifen, Dürers Grab fand er - wie immer - nicht. Es hätte ihn nur interessiert, ob da wie immer ein frischer Kranz der Stadt lag, der dem Meister huldigen soll. Wahrscheinlich schon, überlegte er resigniert, manches bleibt ewig. Und die Lebenden? Wo ist die Fürsorge der Großen und Freien Reichsstadt? Scheuerlein zog die Schultern nach oben und beschleunigte seine Schritte.

Ein Tor zwischen den niedrigen Bauten, die die Gärten verbergen sollten, stand offen, er schaute neugierig in den sich öffnenden Hof, an dessen Ende sich ein hohes vierstöckiges graues Gebäude erhob. Erst jetzt sah er, daß diese Durchfahrt mit einer Pförtnerloge ausgestattet war, direkt neben dem Eingang zu einem Blumenladen, dessen Räumlichkeiten dann aber schon im nächsten Gebäude folgen mußten. Ordnungsgemäß prangte eine Warntafel an der Wand zwischen Pförtnerloge und Eingang. "Not - Rufe!" stand darüber. Dann las er die ganze Liste. Er kannte das Formular, war aber dennoch sichtlich überrascht, es noch an seinem Platz hängend vorzufinden, denn unter "Unfall" war auch die nächste "Sanitätswache der SA" angegeben, sogar mit lesbarer Telephonnummer: 21000 oder 22863. Ob da noch jemand den Hörer abnahm? Auch die Polizei konnte man rufen unter der Nummer 29843. In der Adam Kraft - Straße 6. Stand da. Immer noch. Er wollte sich im Präsidium erkundigen, ob die Wache seit dem letzten Jahr besetzt sei, versuchte er sich zu merken und setzte seinen Weg fort. Der Blumenladen war geschlossen, seine Fenster waren von innen beschlagen.

Vor der Nummer 32 sperrte eine weiß - rote Bake den Gehweg, zwang ihn auf die Straße. Ein Schild hing an ihr, vermeldete "Einsturzgefahr", man sah es auch so, sogar hinunter bis an die Kreuzung. Kein Haus besaß mehr ein Dach, leer starrten die Fenterhöhlen auf die Straße, rußgeschwärzt lagen die Reste der Dachstühle im Erdgeschoß. Es schien, als gäben nur die fester gemauerten Kamine den Resten Halt. Man näherte sich der Altstadt. Zwischen Bordsteinkante und Straßenbahngeleisen benutzte er den schmalen Streifen blaugraues Basaltpflaster, welches sich schmierig unter seinen Schuhen bewegte. Vorsichtig wollte er sich keinen Knöchel verstauchen, grinste, als er dabei an die Sanitätswache der SA dachte. Welcher Sturm hatte die wohl besetzt?

Auf der anderen Seite der Straße das gleiche Bild, rotbraune Geröllhalden versperrten den Gehsteig. Eine Frau schob ihren Kinderwagen ebenso auf der Straße, er fand, daß sie es besser hätte, konnte sie sich doch am Wagen festhalten.
Aus dem Dunst des Tages war feiner Niesel geworden.
Scheuerlein zog sich den Kragen seines Mantels hoch.


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