Verhandlung - Romanauszüge

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Wie immer erwies sich das Treppenhaus tadellos gebohnert, es roch auch so, gegen die Fenster auf den Kehren zu den Stockwerken glänzte das Holz der Stiegen und Absätze wieder. Um die Ecke zum dritten Stock hing Friedrich schon am Geländer und machte durch die Streben hindurch Faxen. "Onkel Georg!" jubelte er, "Papa ist nicht da! Der ist seit dem Brei weg!" "So? Darf ich trotzdem rauf?" "Freilich! Mama freut sich. Hat heute frei!"
Die Altstimme von Frau Züge näherte sich aus dem Hintergrund, meinte "Ja, jetzt wissen Sie schon alles. Wollen Sie trotzdem herein? Grüß Gott, Herr Scheuerlein. Kommen's!"
Scheuerlein lüpfte den Hut und nickte dazu. "Danke. Wenn ich darf?"
"Ich kann uns einen Malzkaffee machen. Und zwei Wecken hab' ich auch noch, von gestern allerdings, also?"
Er nahm das Angebot dankbar an, schon mit Rücksicht darauf, daß er noch nicht gefrühstückt hatte, dies behielt er allerdings für sich und den Hut in der Hand, wollte nicht, daß es so aussah. So eben.
"Das nehme ich gerne an, Frau Züge."
Die Angesprochene ließ ihn herein, zog dabei Friedrich am Kragen seines Pullovers unter sich her, der protestierte leise, meinte noch etwas von "Rutschen und Geländer". "Ja freilich, heute ist Karfreitag. Die Nachbarn werden ihre Freude dran haben", meinte seine Mutter dazu, er trollte sich ins Wohnzimmer.

Scheuerlein hängte seinen Mantel auf, steckte den Hut auf den Haken darüber, bemerkte dabei, daß sich ein Faden vom Hutband zu lösen im Begriff war.
"Gehen wir in die Küche, da ist's warm, ich hab' heute den Kohleherd an, wegen der Rohrnudeln nachher. Und da kann ich nicht riskieren, daß wir kein Gas haben. Die fallen mir sonst zusammen. Aber was erzähle ich Ihnen das, setzen Sie sich. Musik?"
"Nein, danke. Hatte ich gerade, und wer weiß, was da für welche kommt?"
"Nein, solche nicht. Ich habe immer noch den Sender eingestellt, den Sie vorgestern auch gehört haben. Und die, also, dort ist kein allgemeiner Feiertag, jedenfalls hat sich das heute morgen nicht so angehört. Ganz wie werktags. Da sagen sie bei uns bestimmt gleich, das wär' gottlos. Aber man kann's ja weiterdrehen, nicht wahr? Jetzt setzen Sie sich doch!"
"Danke!" Er setzte sich auf den hinteren Stuhl, dem Herd und dem Ofen gegenüber, konnte so knapp am Fenster hinunter in den Hof sehen. Eine Frau mit hellblauer Schürze hängte Wäsche auf. Das wäre in Ziegelstein nicht möglich, dachte er, nicht heute.
"Regt sich hier niemand auf, wenn da große Wäsche am Karfreitag gemacht wird?" Frau Züge drehte sich zu ihm hin, schon mit zwei kleinen Tellern in der Hand. "Wie soll denn das sonst gehen? Die Frauen hier im Viertel sind meist berufstätig, wie ich. Wo die Männer sind, weiß der Herr. Und am Sonntag soll man's auch nicht tun? Wann denn? Samstag Abend muß mal Ruhe sein. Da wird sich noch einiges ändern, die nächsten Jahre. Was glauben Sie, wann ich das letzte Buch gelesen habe, Herr Scheuerlein?"
Etwas ungläubig blickte er in die Richtung von Frau Züge.
"Ja, schon anders, als die letzten Jahre, oder? Schluß mit die ‚deutsche Frau schminkt sich nicht'. Oder, erinnern Sie sich noch, die ‚deutsche Frau raucht auch nicht'? Aber ich find's gar nicht so schlecht. Da kommen wir auch mal raus. Und, seien Sie ehrlich, das war doch eine Männerwelt, dieser ganze Zirkus. Was hat's denn gebracht. Nee, jetzt machen wir das."
"Was sagt denn mein lieber Kollege dazu?"

Sie lachte. "Bringen Sie ihm das bei? Nein, im Ernst, so weit sind wir noch nicht. Aber er merkt schon, daß da etwas anders ist oder wird. Schon, wenn er Brei kocht. Das macht er übrigens wirklich gut. Friedrich beschwert sich kaum." Sie grinste.
"Wo ist er denn überhaupt, der werte Herr Gemahl?"
"Weg. Genau weiß ich das nicht. Aber ich denke, daß er versucht, für Sie etwas herauszubekommen, und Sie wollten sich ja auch noch treffen, heute Abend um sechs im Wartesaal dritter Klasse. Ich glaube ja, daß er da heute auch ein bißchen seine Freiheit sucht, soll er haben, morgen muß ich wieder zur Arbeit. Da darf er erst um Mittag weg, wenn's unbedingt sein muß."
"Er will halt etwas tun, und irgendwie ... in seinen alten Beruf zurück, nicht wahr. Ist doch auch verständlich. Ich weiß nur nicht, also, momentan geht das bestimmt nicht. Da müssen wir erst wieder Herr im eigenen Haus sein. Das wird dauern, bestimmt. Die Amis richten sich ein. Hoffentlich macht er sich da nichts vor?" Scheuerlein hatte etwas die Stimme am Ende des Satzes erhoben.
"Erst einmal die Tassen. Heißes Wasser habe ich schon. Nehmen Sie, bitte!" Sie reichte zwei Tassen mit Untertassen zu den Tellern dazu. Mit einem fragenden Blick fuhr sie fort, "er hat seinen alten Mantel angezogen vorhin. Und auch die Stiefel, zum Fürchten. Ich möchte das Ding ja gerne wegwerfen, nächste Woche ist doch Sammlung. Die Stiefel natürlich nicht!"
"Lassen Sie ihm den Mantel doch?"
"Riechen Sie mal an dem Ding! Wer weiß, wo das überall war? Ich will's gar nicht hören!"
"Das wird mit meinem nicht anders sein ... aber selber merkt man das nicht, glauben Sie mir." Scheuerlein lächelte und dachte an vorhin.
"Naja. Ich will ja gar nicht schimpfen, es ist doch so schön, daß er endlich da ist. Auch wenn er sich noch etwas schwer tut, mit einem geregelten Alltag."
"Das ist es, denke ich nicht, geregelt war sein Alltag bestimmt. Aber anders halt. Und da braucht er jetzt seine Lücken, kleine Fluchten eben. Das wird schon. Und sonst? Entspannt er sich?"
"Schaut so aus ...", sie reichte eine Zuckerdose auf den Tisch, "... Milch?" "Nein, danke." "Ich brüh' jetzt den Muckefuck auf ...", stellte sich dazu mit dem Rücken zu Scheuerlein an den Herd, sprach aber über die Schulter weiter, "... tagsüber schon. Nachts wacht er auf, immer so gegen drei, vier Uhr. Dann wälzt er sich herum und kann nicht mehr schlafen. Zum Morgengrauen hin geht es dann wieder. Aber das gibt sich doch? Sie waren doch auch einmal Soldat, wie war denn das bei Ihnen? Geben Sie mir Hoffnung!"

"Da kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, Frau Züge, das ist schon so lange her. Ich denke, das wird schon wieder."
"Tuk, tuk, tuk, tuk", machte es im Wohnzimmer, Scheuerlein war nicht undankbar dafür.
"Spielst du schön?" fragte seine Mutter ihren Sohn, als sie das heiße Wasser aus einem emaillierten Topf mit Schnaube in die Teekanne aus Blech goß.
Von nebenan kam keine Antwort, das Geräusch blieb.

In der Backröhre des Herdes lagen auf einem gelben Teller die zwei versprochenen Wecken, jeder bekam eine auf den Teller. "Sie können auch tunken, wenn Sie wollen!" sagte sie, als sie sich nach dem Eingießen des Malzkaffees setzte.
"Schön, daß Sie da sind."
Er nickte und griff zur Tasse, führte diese mit abgestreckten Fingern zum Mund. Röstaroma machte sich auf der Zunge Scheuerleins breit, langsam und vorsichtig, der Kaffee kochte noch fast.
"Naja, Bohnenkaffee ist aus. Aber wird schon gehen, oder?"
"Vorzüglich, Frau Züge. Danke. Den Bohnenkaffee haben jetzt andere. Oder man bekommt ein Paket. Aber zu denen gehören wir beide nicht." Er nickte auf die noch erhobene Tasse zu: "Vorzüglich. Was will man mehr."
Sein Gegenüber lehnte sich zurück.
"Was haben Sie heute noch vor, Herr Scheuerlein?"
"Ich will nachher kurz in die Südstadt, ein bißchen in der Gegend umschauen, bei Sankt Peter ungefähr. Und dann treffe ich mich ja mit Ihrem Mann. Sonst ... und Sie?
" "Wenig. Das Übliche. Aufräumen, Wäsche bügeln und so. Aber sagen Sie, bitte entschuldigens, das mit den Schlafstörungen geht mir nicht aus dem Kopf. Kann es nicht sein, daß er schlimme Sachen erlebt hat, die ihn jetzt nicht loslassen?"
Scheuerlein zuckte mit den Achseln.
"Fragen Sie ihn doch selbst. Ich weiß da eigentlich nichts. Es wird wie bei allen sein, oder?"
"Ich trau mich nicht. Jetzt erzählt er ja immer nur von der Gefangenschaft. Und bis letzten Mai hat er gar nichts erzählt. Einfach nur geschwiegen, wenn es um dieses Thema ging. Da ist doch etwas, ich weiß nicht...?"
Scheuerlein hörte zu.
"Ihnen vertraut er sich doch an, das weiß ich. Wissen Sie nichts?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ich muß doch wissen, woran ich bin! Wir haben doch noch ein paar Jahre zusammen, hoffentlich."
"Wenn es etwas gibt, was ihn bedrücken sollte, wird er schon auf Sie zukommen, da bin ich sicher. Lassen Sie ihm Zeit, er hatte noch nicht viel. Ich denke, er muß sich jetzt erst wieder gewöhnen, dann wird man sehen."
Frau Züge blickte leicht fragend und nicht ganz überzeugt. Sie griff zur Tasse, hielt diese fest und gab zum Malzkaffee etwas Zucker hinzu, rührte langsam um. "Schauen Sie. Da steht doch hinter Ihnen das Radio auf der Anrichte, die Antenne habe ich hinter den Oberschrank gelegt und oben, da, auf ihrem Ende steht die Zuckerdose drauf. So bleibt der Draht hinten. Außerdem sind wir hier im dritten Stock."
Scheuerlein wußte nicht, worauf sie hinauswollte. "Ja, und?"
"Mit so einer langen Antenne können Sie weit hören, so ein Sender aus der Zone ist da gar nichts. Die letzten Jahre waren ja eigentlich alle Sender besser als unsere, schon wenn man Musik mag, also moderne. Swing zum Beispiel. Kennen Sie James Kok?"
Scheuerlein schüttelte den Kopf. "Ich bin da wenig bewandert. Mir reicht das Normale, halt, was man so hören kann. Zarah Leander fand' ich immer ganz schön. ‚Ich steh' im Regen...'" intonierte er leise und etwas brüchig.
"Nett, ja. Und erlaubt bei uns. Damals. Heute kann man alles hören. Vor allem Amis, Goodman. Die sind nicht so meins, irgendwie weichgespült. Aber davon will ich gar nicht reden."
"Sie sind halt jünger", warf Scheuerlein ein.
"Etwas. Es geht aber gar nicht um Musik. Auch London hat man hören können, problemlos. Sie wissen schon, die vier Paukenschläge, Beethoven. Was glauben Sie, welche Nachrichten wir gehört haben? Die vom Deutschlandsender? Lachhaft. Und wenn, dann waren doch noch die Illegalen dazwischen, oft und gern. Die haben die Wahrheit gesagt; und genau das ist das Problem. Die BBC, London, hat seit 43 ungefähr Meldungen aus unseren Ostgebieten gebracht, so aus der Gegend um Lodsch herum oder aus Auschwitz, Oberschlesien. Letzteres liegt so gesehen noch nicht mal in Polen. Und dann noch immer die selben Ortsnamen in den Berichten dazu, Majdanek zum Beispiel oder Sobibor. Genau bring' ich die Orte nicht mehr zusammen, aber in dem Film, den die Amis seit Januar in der Stadt zeigen lassen, kommen die Orte vor. Waren Sie auch drin? Kostet ja keinen Eintritt, läuft unter ‚reeducation'." Sie lächelte, aber war nicht frei dabei.
"Mußte ich. Diensthalber. Mein vorgesetzter Unteroffizier meinte, das wäre gut, wenn ich das sähe, und außerdem kommt es in meine Personalführungsakte. Im Sinne der Denazifizierung. Als wäre das irgendwie Ungeziefer, so hört sich das an. Dabei ..."
"Sehen Sie. Und genau diese Dinge habe ich schon damals im Radio gehört, vor drei, vier Jahren. Da geht es um Millionen, die da ihr Leben verloren haben, ermordet wurden, erschossen und mit Gas. Haben die alles im Radio gemeldet, und offiziell bei uns übrigens auch, nur nicht so genau, da hieß es immer nur, die würden ‚ausgerottet'. Was soll das schon sein? Hat da niemand etwas mitbekommen? Lächerlich. Wenn der große Führer und Reichskanzler so etwas ankündigt, dann haben wir das nicht glauben sollen? Ausgerechnet das nicht? Aber das wissen Sie ja selbst. Ich meine etwas anderes ..."
"So direkt habe ich das ...."
"Herr Kriminalkommissar. Enttäuschen Sie mich nicht, ja! Ich denke an meinen Mann. Der muß auch so etwas gesehen haben, das geht gar nicht anders. So lange, wie er im Osten war, und wo überall. Das hat er ja erzählt. In der Ukraine. Und da gibt, gab, es überall eine recht dichte jüdische Bevölkerung. Da konnte man gar nicht dran vorbei. Da bin ich mir ganz sicher. Also - er muß es wissen, wenn nicht sogar ... wer hat denn das ausgeführt? Die SS heißt es jetzt. Das ist ein bißchen einfach. Die sprachen damals im Radio auch von Einsatzgruppen. Vier waren es, A - D. Und ist Ihnen aufgefallen, daß da jetzt keine Rede mehr davon ist?"
"Nein. Da habe ich nicht darüber nachgedacht. Das ..."
"Ja. Nicht wahr? Gehörten Sie eigentlich zur SiPo oder zur OrPo?"
"Zur SiPo."
Frau Züge nahm einen Schluck Kaffee.
"Herr Scheuerlein, seien Sie froh, daß Sie für die PKN zu alt waren. Die Abkürzung SiPo war in jedem Bericht damals zu hören. ‚Einheiten des SD und der SiPo ...' hieß es. Aber auch die Schutzpolizei ... sagen Sie einmal, haben Sie damals eigentlich nichts mitbekommen? Das kann doch nicht sein, bitte! Nehmen Sie mich ernst?"
Scheuerlein schwieg.
"Ich traue mich nicht, ihn danach zu fragen ... und wie ist es, wenn er es zugibt? Da hab' ich Angst davor. Wir haben doch den Friedrich."
"Ach Frau Züge. Sehen Sie es doch einmal so: Wenn er bisher nie das Bedürfnis hatte, mit Ihnen über solche Sachen zu sprechen, dann ist da möglicherweise gar nichts. Kann es denn nicht sein, daß er wirklich nichts mitbekommen hat? Die Ukraine ist doch groß. Und Polen - naja, also diese Sachen, die unterlagen doch alle der Geheimhaltung, also, so ganz offen wird das nicht gewesen sein, was Sie da gehört haben wollen ..."
"Ich will nicht. Ich habe!"
"... Warum machen Sie sich das so schwer? Schauen Sie, Sie müssen sich doch glücklich schätzen, sie haben doch alle drei überlebt. Und jetzt beginnt etwas Neues, ganz anderes. Warum belasten Sie sich mit Dingen, die mit Ihnen ganz sicher nichts und mit Ihrem Mann nur in Ihrer Vorstellung etwas zu tun haben. Freuen Sie sich doch auf das, was jetzt kommt!"
Frau Züge nahm ihren Wecken in die Hand und teilte ihn in der Mitte, weiß riß das Fleisch auseinander. Sie biß von einer Hälfte ab und kaute langsam. Scheuerlein traute sich jetzt auch, blickte dabei auf seinen Teller.
"Ich glaube, Sie wollen mich nicht richtig verstehen. Es geht gar nicht darum, was jetzt kommt. Es geht mir um tatsächliche Schuld, von allen. Und dann um das, was mein Mann getan hat, möglicherweise", schob sie nach, "es kann gar nicht anders sein. Auch wenn er dafür nichts kann. Da hilft es nichts, die Augen zu verschließen oder sich irgendwelche Ausreden zu erfinden. Er war dort ... Ich hasse diesen Mantel."
"Nur weil er so einen Mantel hat ... den haben viele. Und er mußte zur PKN wie die anderen auch."
"Das ist es ja. Die waren alle beteiligt, haben es alle gewußt. Wenn ich als Hausfrau so leicht dahinterkam, was mit den abgeholten Mitbürgern geschah, dann die doch ganz besonders, da gibt es kein Vertun. Sie auch, Herr Scheuerlein. Nur gesprochen hat man damals nicht darüber, hatten wir nicht da schon ein schlechtes Gewissen, weil wir wußten? Und uns das nicht eingestehen konnten oder wollten? Und weggesehen haben wir alle. Genau deswegen."
"Ja", sagte Scheuerlein leise.


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